Dachte man
früher, dass sich Lesen und Schreiben lernen allein in der Schule
abspielt, so weiß man heute, dass sich viele Kinder schon lange vorher
Kompetenzen im Umgang mit Geschriebenem aneignen. Die
schriftsprachlichen
Erfahrungen, die Kinder in den ersten Lebensjahren machen, werden seit
einigen Jahren unter dem Begriff „Literacy“ – „Literalität“
zusammengefasst. Auch die Vorstellung
davon, was Lesen und Schreiben können überhaupt
bedeutet, hat sich verändert: Während man in
den 70er Jahren darunter vor allem korrektes Schreiben verstand, hat
sich im Laufe der Jahrzehnte ein umfassenderes Bild von Schriftsprache
durchgesetzt. Das
ist einer der
Gründe dafür, weshalb in Grundschulen zu
Beginn
des Schreibunterrichts der Schwerpunkt (noch) nicht unbedingt
auf
der richtigen Schreibung liegt. Vielen Eltern fällt es
jedoch schwer, einen frei formulierten
Text des
eigenen Kindes wertzuschätzen, wenn dieser zahlreiche Schreibfehler
enthält – auch deshalb, weil sie
selbst eben noch nach
einem anderen Verständnis Schreiben gelernt haben.
Schaut man sich genauer
an, was
nach heutigem Wissen alles zu schriftsprachlichen Fähigkeiten gehört und wie Kinder sich
diese aneignen, zeigt sich: Frei geschriebene Texte, so fehlerhaft sie
auch
sein mögen, sind ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Schriftsprache (Wie lernen Kinder in der Schule Lesen und
Schreiben?). Wie können Eltern und
pädagogische Fachkräfte in Kindertagesstätten Kinder auf diesem
Weg unterstützen? Für die Beantwortung dieser Frage
ist es hilfreich zu wissen:
top
Nach heutiger
Sichtweise gehört zum Lesen und Schreiben:
- Die Fähigkeit, zu erkennen, wo überhaupt etwas geschrieben
steht, wie herum man ein Buch hält, dass man darin blättert, von wo
nach wo wir lesen und schreiben ...
- Lesen und Schreiben als vollwertige Tätigkeiten
wahrzunehmen,
zu erkennen, dass Schrift eine Bedeutung hat, dass durch sie
kommuniziert
werden kann.
Beispiel:
Marie (2;9) hat Socken von Nick geliehen, auf denen
TUESDAY steht.
Beim Ausziehen nimmt sie
die Schrift als solche wahr und sagt:
„Da steht Nick drauf!“
- Die Fähigkeit, über Sprache nachdenken zu können
(= metasprachliches Bewusstsein): Die Aufmerksamkeit auf die rein
sprachliche Form lenken zu können –
und nicht, wie für kleinere Kinder
üblich, auf den Inhalt.
Beispiel:
Rabe und Rebe sind sich vom Schriftbild her ähnlich,
weil der Klang ähnlich ist und nicht das
Bezeichnete,
wie bei Rabe und Amsel.
-
Die Fähigkeit, einzelne Laute von
Sprache wahrzunehmen (= phonologisches Bewusstsein): Wo hört ein Wort
auf, wo fängt das nächste an? Mit welchem Laut beginnt ein Wort? Welche
Laute sind in der Mitte / am Ende des Wortes?
- Das Wissen darum, dass geschriebene Sprache sich in
wesentlichen Punkten von gesprochener unterscheidet: Die Grammatik ist
komplexer, der Wortschatz vielfältiger. Geschriebenes erklärt sich
nicht wie Gesprochenes aus dem aktuellen Kontext heraus –
dieser muss
immer
mit erklärt werden.
Beispiel:
Mündlich: Ich hab das dahin gelegt.
Schriftlich: Ich habe das Buch auf die Kommode gelegt.
Mündlich: Der Paul hat in der Schule mit Füller geschrieben.
Schriftlich: (in einer Geschichte): Paul schrieb in der Schule mit
Füller.
- Die korrekte Rechtschreibung zählt natürlich nach wie vor
zu den zentralen schriftsprachlichen Fähigkeiten.
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Die folgenden Phasen
durchlaufen Kinder, wenn sie Schreiben lernen:
1. Kritzelphase:
Einsicht in
die Verhaltensweisen beim
Schreiben;
Nachahmung
Beispiel:
Kinder zeichnen Spuren auf ein Blatt und lesen dann
vor,
„was da steht“.
2. Logografisches
Schreiben:
Schreiben von
Folgen
einzelner bekannter Buchstaben;
Abschreiben
bzw. -malen
Beispiel:
Kind (3;9): MAMAMAMA
3. Alphabetische Phase:
Schreiben mit
Lautbezug;
Schreiben, wie man spricht
Beispiel:
Kind (5;11): „Okay –
Oh, nein!“
4.
Orthografische
Phase:
Rechtschreibstrategien, oft
einhergehend mit Übergeneralisierungen:
Neue Einsichten in die
Rechtschreibung werden angewandt, auch dort,
wo sie evtl. falsch sind.
Beispiel:
Ein Kind hat gelernt, dass man
Dinge oft mit -er am Ende
schreibt, auch wenn es sich
eigentlich wie -a anhört.
Es schreibt nun richtig: Bagger, Laster
aber auch:
Omer (anstatt Oma)
5.
Automatisierung:
Die Rechtschreibung wird
beherrscht,
sodass sich die schreibende Person
ganz auf den Inhalt konzentrieren
kann.
In welchem Alter ein Kind
die jeweilige Phase durchläuft, ist individuell sehr unterschiedlich.
Es hängt in hohem Maße davon ab, wie vielfältig die Erfahrungen sind,
die es in seinem Umfeld
mit Schriftsprache macht. Bei
Eintritt in die Schule befinden sich die meisten Kinder in der Phase 2
oder 3.
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Kinder nähern sich der
Schriftsprache auf dieselbe Art und Weise an, wie sie Sprache generell
erwerben (Wie erwerben Kinder Sprache(n)?): Durch Nachahmung
dessen, was sie in ihrem Umfeld erleben, in Interaktionen,
spielerisch, unter Einbezug aller Sinne, unbewusst und eigenaktiv.
Dabei steht für sie –
ebenso wie beim Erwerb der gesprochen Sprache – nicht die Schrift als
solche im
Mittelpunkt,
sondern ihre Funktion: Wofür ist Geschriebenes da, was habe ich selbst
davon,
wenn ich lesen und schreiben kann? Spielt Schrift in der Familie des
Kindes eine wichtige Rolle, etwa weil die Eltern viel (vor)lesen, in
Gegenwart des Kindes Schreibarbeiten erledigen, weil zusammen Listen
oder Briefe verfasst werden, das Kind Post von Verwandten erhält usw.,
so wird das Kind dies als etwas Wichtiges, Selbstverständliches
annehmen – und auf die Frage nach
der Bedeutung von Schriftsprache
vielfältige Antworten finden:
Ich kann durch
geschriebene Sprache ...
- mich mitteilen, z. B. durch Zettelchen mit Botschaften oder
in Briefen
- Listen anfertigen, damit ich nichts vergesse
- Geschichten vorgelesen bekommen und selbst lesen
- Geschichten schreiben
- Nachrichten in Zeitungen lesen
- Anweisungen in Bedienungsanleitungen lesen ...
Kindern,
denen von klein auf vermittelt wird, wofür Schriftsprache da ist, und
die früh Erfahrungen damit machen, fällt es später in der Schule
leichter, Lesen und Schreiben zu lernen als solchen, die diese
Erfahrungen vorher kaum oder gar nicht machen konnten ( Vorlesestudien der Stiftung Lesen).
In diesem Zusammenhang kommt
der Kindertagesstätte eine wichtige Rolle zu – nämlich allen Kindern
Erfahrungen mit Schriftsprache zu ermöglichen.
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Wie die sprachliche
Bildung (sprachliche Bildung in der Kita; sprachliche Bildung in der Familie) generell
orientiert
sich auch die Vermittlung von schriftsprachlichen Fähigkeiten an den
kindlichen
Erwerbsprozessen. Pädagogische Fachkräfte in Kindertagesstätten können
sich die
Unbefangenheit, mit der sich Kinder eigenaktiv Neues aneignen, zunutze
machen.
Literacy in der
Kita widerspricht nicht etwa dem eigenen Bildungsauftrag, sondern
gestaltet den
Übergang Kita – Schule.
Konkret förderlich ist
alles, was
mit Schriftsprache zu tun
hat, also z. B.:
- Schrift
(verschiedener Sprachen!) in der Kita sichtbar machen, z. B. durch
Bücher und
Aushänge; die Namen der Kinder an ihre Garderobenhaken schreiben; in
Gegenwart
der Kinder Schreibarbeiten erledigen ...
-
Rollenspiele
anbieten, in denen Geschriebenes eine zentrale Rolle spielt, z.B. im
Einkaufsladen, in der Post, im Restaurant ...
-
Schreibecke
mit
Schreibutensilien / Leseecke mit gut
zugänglichen, wechselnden Büchern in vielen Sprachen einrichten.
-
Mit Kindern
gemeinsam schreiben, z. B. Listen, Einladungen; Fotos beschriften ...
- Bilderbuchbetrachtungen und Vorlesen in vielen Sprachen
-
Vieles, was in
der Sprachbildung und im Kitaalltag sowieso eine Rolle spielt, z. B.
Reime,
Lieder, Rhythmik, ist auch förderlich für die Entwicklung von
Sprachbewusstsein.
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Für
den schulischen Rechtschreibunterricht
gibt es unterschiedliche Methoden, die sich vor allem durch den Grad
ihrer
Strukturiertheit unterscheiden: So lernen manche Kinder einzelne
Buchstaben
nacheinander, sodass ihre Schreibbemühungen mit vorgegebenen Wörtern
wie „Mimi“
oder „Mama“ beginnen. Andere Kinder bekommen eine Anlauttabelle an die
Hand,
mit deren Hilfe sie von der ersten Unterrichtsstunde an freie Texte
schreiben können –
die zunächst natürlich viele Rechtschreibfehler enthalten.
Welches
ist die richtige
Methode? Das lässt sich empirisch schwer beantworten, denn erstens ist
Lesen
und Schreiben lernen ein komplexer Prozess, dessen Erfolg nicht
ausschließlich an einer Unterrichtsmethode festgemacht werden kann.
Zweitens
werden die einzelnen Methoden in einer Klasse oder Schule selten in
Reinform
angewendet, sondern oft miteinander kombiniert.
Zusammenfassend
zeigen
Studien ( „Faktencheck“ des Mercator Institutes)
aber:
-
Alle
Methoden führen zum Ziel –
am Ende der 4. Klasse ist keine Methode
überlegen.
-
Es
gibt nicht die eine Methode, die für alle richtig ist. Manche Kinder
lernen gut
in offenen Formen, andere brauchen mehr Anleitung. Wichtig ist auch,
dass die
Lehrkraft selbst überzeugt ist von den Methoden, die sie anwendet.
-
Strukturierte
Anleitung ist für den Rechtschreiberwerb unabdingbar; Kinder lernen
korrektes
Schreiben nicht von allein.
-
Es
ist sinnvoll, den Kindern Rechtschreibstrategien zu vermitteln, anhand
derer
sie selbst herausfinden können, wie etwas geschrieben wird (z. B. Hund –
Hunde,
also wird Hund mit „d“ am Ende geschrieben und nicht mit „t“). Gibt man
dagegen
Regeln der richtigen Schreibung einfach nur vor und lässt diese
auswendig lernen, sind sie für das
Kind nicht
nachvollziehbar.
Wie
nun aber in den Unterricht
starten? Diese Frage lässt sich leicht beantworten, wenn man sich die
kindliche
Entwicklung zum Zeitpunkt des Schuleintrittes anschaut und sich dabei
vor
Augen hält: Kinder entwickeln sich nicht plötzlich komplett anders, nur
weil
sie ein Schulkind sind!
Bei
Schuleintritt bringen Kinder mit ...
-
Stolz,
ein Schulkind zu
sein
- Lust
und Motivation zum
Lesen und Schreiben
-
Eigenaktivität
und den
Drang, sich weiterzuentwickeln
- Individuell
ganz
unterschiedliche Vorerfahrungen
- Die
meisten Kinder
befinden sich bei Schuleintritt in der logografischen oder
alphabetischen
Phase (Phasen des Schriftspracherwerbs)
Bei
Schuleintritt bringen Kinder nicht mit ...
-
Ein
ausgereiftes
Bewusstsein für Sprache als solche
-
Die
Fähigkeit, sich
differenziert mit sprachlichen Regeln zu befassen
- Ausreichende
Feinmotorik
-
Interesse
daran, schön und
richtig zu schreiben
Eine
pädagogische Maxime lautet, ein Kind da abzuholen, wo es „steht“.
Auch
für die
Vermittlung der Schriftsprache ist es sinnvoll, an dem anzuknüpfen, was
das jeweilige Kind mitbringt (und was eben noch nicht).
Das bedeutet, es zunächst frei schreiben zu lassen. So kann das Kind
sein Interesse
an Schriftsprache und seine persönlichen Erfahrungen damit weiter
entfalten. Es
erlebt sich von Anfang an als kompetenten Schreiber und lernt, dass
Lesen und Schreiben wichtige Funktionen haben. Kinder, die Schrift
Buchstabe für Buchstabe lernen,
kommen
dagegen oftmals gar nicht auf die Idee, dass sie etwas frei schreiben
könnten („Nein,
das hatten
wir noch nicht“). Das freie Schreiben ist als Einstieg
gedacht. Es ersetzt keinesfalls
die strukturierte Unterweisung, vielmehr ergänzen sich beide: Kinder
wenden von
Beginn an Schrift an, lernen aber auch zunehmend, sich nach Regeln zu
richten.
weitere
Literatur zum kindlichen Schriftspracherwerb
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